Zutaten für eine barrierefreie digitale Welt

Beat Vollenwyder

Unter welchen Bedingungen werden die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen bei der Gestaltung von digitalen Produkten berücksichtigt? Vier Studien geben Hinweise.

Einleitung

Erst als der Kegel der Leselampe erlischt, merke ich, dass es spät geworden ist. Stille hat sich in den Lesesaal um mich herum gelegt. Wenige Menschen vertiefen sich in Bildschirme und Papiere, als die paar tausend Zeichen meiner Dissertation in eine neue Datei gespeichert werden. Ich habe soeben den letzten Satz überarbeitet, die Arbeit ist abgeschlossen. Durch die schwere Holztüre der Bibliothek trete ich nach draussen. Es ist kühl, der erste Regen des aufziehenden Herbstes liegt in der Luft. Ich beschliesse, die halbe Stunde nach Hause zu Fuss zurückzulegen.

Hinter mir liegen nun mehrere Jahre an Studien, Gedanken, Gesprächen und Kaffeetrinkens. Immerhin kann ich sagen, dass mich das gewählte Thema noch immer fasziniert. Ich bin in meiner beruflichen Tätigkeit als User Experience Architekt auf die digitale Barrierefreiheit gestossen. Die Möglichkeiten, welche sich durch Apps und Websites für Menschen mit einer sensorischen, motorischen oder kognitiven Einschränkung eröffnen, haben mein Interesse geweckt. Durch Hilfsmittel auf Smartphones und Computern entstehen ganz neue Zugänge zu digitalen Medien. Beispielsweise kann eine Person mit einer Sehbehinderung Texte vergrössern oder sich von einem Screenreader alle Inhalte vorlesen lassen und so selbstständig Apps und Websites nutzen.

Solche Möglichkeiten sind umso wichtiger, da wir alle im Verlauf unseres Lebens irgendwann von einer Einschränkung betroffen sein werden. Sei dies dauerhaft durch eine Krankheit, vorübergehend nach einem Unfall oder auch nur in einer bestimmten Situation bei schlechtem Licht oder in einer lauten Umgebung. Damit das Zusammenspiel mit den Hilfsmitteln funktioniert, müssen Apps und Websites dafür gestaltet werden – beispielsweise indem das Design auch bei einer Vergrösserung noch übersichtlich bleibt oder indem für Bilder eine Beschreibung hinterlegt wird.

Auf meinem Heimweg steige ich eine Treppe hoch, daneben verläuft eine Rampe. Für viele Menschen sind solche Massnahmen praktisch, für einige unersetzlich, um sich selbstständig bewegen zu können. In der digitalen Welt ist es ähnlich.

Illustration einer Hütte auf einem Berg. Über eine Treppe, eine Rampe und eine Seilbahn führen unterschiedliche Wege nach oben.
Digitale Barrierefreiheit bedeutet, Apps und Webseiten für so viele Menschen in so vielen Situationen wie möglich zugänglich zu machen.

Obwohl der Zugang zu Apps und Websites für viele Menschen eine grosse Bedeutung hat ist das Erstaunliche: Digitale Barrierefreiheit bekommt noch bei weitem nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient. Von der einen Million am meisten besuchten Websites der Welt sind bei 96.3 Prozent grundlegende Fehler in der Umsetzung erkennbar. Das Ziel meiner Doktorarbeit am Forschungsschwerpunkt Mensch-Maschine Interaktion der Universität Basel war zu verstehen, wieso die digitale Barrierefreiheit nicht konsequenter berücksichtigt wird.

Die Studien

Natürlich war ich nicht die erste Person, die sich diese Frage nach der ungenügenden Umsetzung von digitaler Barrierefreiheit gestellt hat. Zusammen mit meinen Ko-Autorinnen und -Autoren haben wir deshalb alle Studien von 2008 bis 2018 zu diesem Thema aufgearbeitet. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse wurden im Anschluss von Personen bewertet, welche an der Entwicklung von Websites mitarbeiten. Dabei zeigten sich drei wichtige Faktoren: Erstens, Menschen mit einer Behinderung sollten Möglichkeiten erhalten, ihre Perspektive in die Entwicklung von Apps und Websites einzubringen. Zweitens, alle Personen, die an der Entwicklung einer Webseite beteiligt sind, müssen in ihrer beruflichen Rolle eine Verantwortung für Barrierefreiheit wahrnehmen. Drittens, es braucht die Überzeugung, dass Barrierefreiheit die Qualität eines Produkts erhöht und damit Vorteile für alle Nutzerinnen und Nutzer bietet. Diese Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Computers in Human Behavior veröffentlicht.

Zwei der drei Faktoren – der Einfluss auf die Qualität und der Einbezug von Menschen mit einer Behinderung in den Entwicklungsprozess – haben wir in unserer Forschungsgruppe genauer betrachtet. Eine erste Studie beleuchtete, wie sich die Verwendung von Sprache auf die wahrgenommene Qualität einer Webseite auswirkt. Text ist ein wichtiger Bestandteil des Web und mit einer einfacheren Sprache können mehr Menschen erreicht werden. Es hat sich aber gezeigt, dass stark vereinfachte Textformen wie Leichte Sprache nicht in jeder Situation geeignet sind und auch störend wirken können. In Zusammenarbeit mit ACH SO! und den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) haben wir deshalb nach Wegen gesucht, um verschiedene Textformen gemeinsam darzustellen. Dabei konnten wir zeigen, dass mit einer kombinierten Darstellung von Texten in Standardsprache und Leichter Sprache ein gutes Leseerlebnis für alle Nutzerinnen und Nutzer gestaltet werden kann. Diese Ergebnisse wurden an der International Conference on Computers Helping People with Special Needs veröffentlicht.

Eine weitere Studie untersuchte den Einfluss von Richtlinien zur Barrierefreiheit auf die wahrgenommene Qualität einer Webseite. Bei der Gestaltung von barrierefreien Apps und Websites spielen Vorgaben wie die Web Content Accessibility Guidelines 2 (WCAG) eine wichtige Rolle. In vielen Fällen wird anhand dieser Richtlinien beurteilt, wie die Barrierefreiheit umgesetzt wurde. Ob solche Richtlinien das wichtigste Kriterium sein sollten, wird in der Wissenschaft und der Praxis kontrovers diskutiert. Wir haben diese Frage vertieft und Menschen mit und ohne Sehbehinderung dazu eingeladen, eine Webseite zu testen, welche die Richtlinien entweder erfüllte oder nicht erfüllte. Dabei hat sich gezeigt, dass allein das Abhaken der Vorgaben aus den WCAG nicht in jedem Fall zu einer messbaren Verbesserung für die Nutzerinnen und Nutzer führt. Die Richtlinien sollten als ein erster wichtiger Schritt gesehen und der Entwicklungsprozess mit dem Einbezug von Nutzerinnen und Nutzern ergänzt werden. In den frühen Entwürfen der WCAG 3 werden ebenfalls solche Ideen vorgeschlagen, was durch unsere Resultate unterstützt wird. Diese Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift International Journal of Human-Computer Studies veröffentlicht.

In einer letzten Studie stellten wir uns schliesslich die Frage, wie eine App oder Webseite im Idealfall gemeinsam mit Menschen mit einer Behinderung gestaltet werden kann. In Zusammenarbeit mit der SBB haben wir eine komplette Entwicklung von den ersten Ideen bis zum fertigen Produkt durchgeführt. An jedem Schritt waren Menschen mit einer Sehbehinderung beteiligt. Dabei entstand die App SBB Inclusive, welche das unabhängige Reisen mit dem öffentlichen Verkehr unterstützt. Die App hat sich zu einem festen Bestandteil des Angebots der SBB entwickelt, wurde mit dem Prix de la Canne Blanche 2020 für die beste Innovation zugunsten von Menschen mit einer Sehbehinderung ausgezeichnet und 2022 als erste App der Schweiz als barrierefrei zertifiziert. Diese Ergebnisse wurden an der International Conference on Computers Helping People with Special Needs veröffentlicht.

Fazit

Welche Zutaten braucht es nun, damit die digitale Barrierefreiheit die Aufmerksamkeit erhält, die sie verdient? In allen vier Studien hat sich gezeigt, dass die Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderungen für das Thema entscheidend ist. Ein direkter Einbezug führt zu einem besseren Verständnis der Bedürfnisse und unterstützt eine optimale Gestaltung von Apps und Websites. Das Erfüllen von Vorgaben zur Barrierefreiheit wie die WCAG sollte daher ein erster Schritt sein, welcher mit der Sicht der Nutzerinnen und Nutzern ergänzt wird. Weiter ist es wichtig, dass Barrierefreiheit im ganzen Designprozess gestärkt möglichst früh angedacht wird. Und schliesslich sollte allen an einer Produktentwicklung Beteiligten bewusst sein, dass in jeder beruflichen Rolle etwas zur Barrierefreiheit beigetragen werden kann.

Für die Praxis bedeutet dies:

  • Verstehe die Grundlagen der digitalen Barrierefreiheit, indem du die wichtigsten Vorgaben kennen lernst und verschiedene Hilfsmittel selbst ausprobierst. Ein guter Einstieg ist das Buch Accessibility for Everyone.

  • Lade Menschen mit Behinderungen so früh wie möglich dazu ein, deine App oder deine Webseite zu testen. Nimm dazu Kontakt mit lokalen Verbänden auf, wende dich an einen Dienst wie TestingTime, oder hole eine Person mit einer Behinderung in dein Team.

  • Diskutiere mit anderen Personen in derselben beruflichen Rolle, wie ihr digitale Barrierefreiheit stärken könnt. Die ersten Schritte in verschiedenen Rollen sind in diesem Guide der SBB zusammengefasst.

Empfehlungen für Organisationen, die öffentliche Hand und mögliche weitere Fragen für die Forschung sind in der Dissertation beschrieben.

Zurück zu meinem Spaziergang. In der Zwischenzeit fällt der erste Regen und ich bin vor meiner Haustüre angekommen. Während ich aufschliesse, denke ich an die vielen Fragen, welche auch nach dem Abschluss der Dissertation offen sind. Die digitale Barrierefreiheit bleibt eine spannende Herausforderung.

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